Nähe und Distanz
In der ersten Verliebtheit möchten die Verliebten so oft und so nahe wie nur möglich zusammensein. Der / die Geliebte bedeutet die ganze Welt und man hat nur an ihm /ihr Interesse.” Du reichst mir” und “Nichts soll zwischen uns kommen!” Bald aber merkt man, dass das nicht immer so geht und manchmal kommt mit der Zeit auch der Gedanke auf: “Mir wird es zu eng, es ist für mich ohne dich auch ganz schön. Und das wage ich nicht, dir zu sagen, denn dann meinst du vielleicht, ich liebe dich nicht mehr.” Und die Frage kommt auf: ”Ist es wirklich am Schönsten, wenn wir alles gemeinsam machen würden oder könnte das nicht auch zu einem Alptraum werden?”
Die Spannung zwischen gemeinsamen Interessen und Einzelaktivitäten zeigt konkret, was Nähe und Distanz für die Ehe bedeuten. Jede Liebe will Nähe. Zuviel Nähe kann die Liebe zerstören. Jede Beziehung braucht eine gewisse Distanz. Zuviel Distanz kann zwei Menschen einander entfremden...
Balance
Dabei die richtige Balance zu finden ist schwierig. Noch dazu, weil Menschen eben schon von sich aus unterschiedliche Bedürfnisse nach Nähe und Distanz haben und sich das mit der Zeit auch verändern kann. Außerdem kann es geschehen, dass der/die eine der beiden gerade ein besonders Bedürfnis nach Nähe hat und die/der andere gerade Distanz braucht. Wir verstehen aber Sehnsucht nach Nähe meist als Ausdruck großer Liebe und bei der Sehnsucht nach Distanz befürchten wir, dass das ein Zeichen schwindender Liebe ist. Aber in jeder guten Beziehung braucht es einfach sowohl die Nähe als auch die Distanz.
Nur: Alles, was zu viel ist, ist nicht gut. Zuviel Nähe kann Unterwerfung und eine Opfermentalität mit sich bringen, wenn etwa der Mann widerwillig in die von seiner Frau ausgesuchten Konzerte mitgeht, weil sie das so verlangt. Zuviel Distanz führt oft zu Egoismus und Entfremdung, weil man sich an getrenntes Erleben derart gewöhnen kann, dass man den anderen Teil ganz aus den Augen verliert. Es gilt also für die Beiden den für sie richtigen Weg zu finden. Dazu müssen sie aber miteinander darüber sprechen können und lernen, auch in Liebe manchmal “Nein” zu sagen.
“Das Nein in der Liebe”
Peter Schellenbaum beschreibt das in seinem lesenswerten Buch: “Das Nein in der Liebe” so:
“Gehört das Nein in die Liebe? Dann müssen wir lernen, in einer Weise nein zu sagen, dass die Liebe nicht zerstört, sondern gefördert wird. Was wir im Aufbrechen einer Liebe ohne eigenes Zutun zunächst als das Gegebene erfahren, ist nicht ein Nein, sondern das bedingungslose Ja zu einem Menschen, der uns so fern war und jetzt auf einmal so nahe, so vertraut scheint. Das Ja, das in der ersten Verliebtheit ein bloßes Gefühl war, kann zum Wort werden, durch das eine Ehe geschlossen wird. In diesem Falle scheint das Glück zweier Menschen davon abzuhängen, ob das gegenseitige Ja uneingeschränkte Gültigkeit behält. Jedes ‚Ja –aber’ gar jedes Nein geht uns gegen den Strich, stört die Harmonie, kündigt Schlimmes an: Streit, Untreue, Trennung, Scheidung. Kommt trotzdem einmal ein Nein, fast gegen den eigenen Willen, über die Lippen, sind wir rasch zum Einlenken bereit: ‚Doch, natürlich, ich meinte es gar nicht so.’
Wir können noch nicht zwischen einer Abwehr unterscheiden, die eigentlich nur die in jeder Bindung nötige Abgrenzung meint, und einer Abwehr, die über die Abgrenzung hinaus den andern vom eigenen Leben ausschließen will. Wir haben noch nicht gelernt, in der Liebe nein zu sagen. (...)
Das verbindende Ja der ersten ‚glücklichen’ Zeit wandelt sich unmerklich zu einer gegenseitigen Anspruchshaltung, die seelisch trennt. Beide sitzen am gleichen Tisch und wollen versorgt werden. Jeder möchte seine eigenen Bedürfnisse befriedigt haben.” Das bringt natürlich auch Probleme. Wenn die Beiden nicht lernen auch die Bedürfnisse des anderen zu erkennen und sich zu entscheiden, diese erfüllen zu wollen, so wird es schwierig, denn das “....kompliziert die Sache und zieht unaufhörlich kleine Machtkämpfe und immer ausgeklügeltere Absprachen nach sich, um deren Wortlaut mit oder ohne Worte gestritten wird. Das anfängliche Ja ist aus dem Zentrum gerutscht und klebt jetzt an der Oberfläche zur Legalisierung des Versorgungsinstituts, das beide gemeinsam betreiben.
Wer nicht lernt, in der Liebe zum andern nein zu sagen, weicht gerne in eine ‚Wohlfahrtsehe’ aus. Das totale Ja führt leicht zum totalen Nein: Diese Erfahrung machen zwei Liebende schon nach kurzer Zeit. Um die Beziehung vor diesem Umschlag zu retten, verzichten sie oft auf die Liebe und werden zu bloßen Vertragspartnern. Der traurige Verlust der Liebesbindung kommt daher, dass das Nein in der Liebe nicht eingeübt wird. Aus Angst vor dem Nein können zwei Partner nicht mehr ja zueinander sagen. Weil sie sich nicht abgrenzen können, können sie sich nicht mehr begegnen. Weil sie sich nicht sagen können: ‚Jeder von uns hat einen eigenen Bereich, den er mit dem anderen nicht teilt: eigene Anlagen, Interessen, Leidenschaften’, können sie sich auch im gemeinsamen Mittelfeld nicht mehr treffen.
Ein Indiz dafür ist die betrübliche Tatsache, dass Verheiratete oft frühere Freundschaften vernachlässigen und sogar aufgeben. Dabei würden gerade diese – und auch neue – Freundschaften, vor allem von Frauen mit Frauen und Männern mit Männern, die Hochschätzung und Pflege der individuellen Eigenart im Gegensatz zu dem, was zwei Liebende verbindet, fördern. Ohne andere freundschaftliche Beziehungen verkommt das starke Ja der Liebe zu Stumpfheit, Bequemlichkeit und infantiler Bedürfnisbefriedigung.”
Aus: Peter Schellenbaum: “Das Nein in der Liebe” dtv; Deutscher Taschenbuch Verlag
Luitgard Derschmidt, Juni 2003